Ich kann Dich nicht zwingen
Einer der obersten Leitsätze in meiner Ausbildung zum Elterncoach am Alfred Adler Institut IP Erziehung war der:
„ICH WEISS, DASS ICH DICH NICHT ZWINGEN KANN“
(Zitat: Andrea Pini Weber)
Gerade diese Woche habe ich diesen Satz erneut in einem Coaching, mit einer interessanten, wundervollen Frau und Mutter verwendet. Nach dem Coaching ist mir aufgefallen, dass es genau dieser Satz ist, der für mich ein grosser Schlüssel in meinem eigenen Prozess mit meinen Kindern, meiner Umwelt und mit mir selbst ist. Es ist ein Satz, der mich, als ich ihn zum ersten Mal gehört und verstanden habe, ganz schön ins Schleudern gebracht hatte. Zuerst mit meinen Kindern, aber später auch mit meiner Umwelt und mir. Ich kann niemanden zu irgend etwas zwingen! Jawohl. Lass Dich doch mal auf diesen Gedanken ein und schau mal, was er mit Dir macht. Was passiert in Dir, wenn Du denkst „Ich weiss, dass ich mein Kind nicht zwingen kann?“ Oder meinen Partner? Oder meinen Vater?
Also ganz ehrlich, mich hat dieser Gedanke ziemlich in die innere Not gebracht. In mir stieg eine Hilflosigkeit hoch und die grosse Frage „WAS BEDEUTET DAS?“. Bedeutet das für mich, dass ich mich ALLEN anpassen muss? Dass ich alles immer akzeptieren muss? Dass meine Bedürfnisse quasi von der Bildfläche verschwinden, denn ich kann ja niemanden zwingen, auf diese Rücksicht zu nehmen?
Haben wir nicht alle unsere Strategien, um auf uns und unsere Bedürfnisse aufmerksam zu machen und Andere hier und dort in unseren Dienst zu stellen?
Strategien können sein:
- Ich weine, damit andere Mitleid mit mir haben, mich trösten oder auf ihr Verhalten verzichten.
- Ich habe Ängste. Diese können Andere dazu bringen, dass sie etwas für mich tun, weil ich es nicht kann. Sie können mir extra Aufmerksamkeit schenken. Sie können Mitleid erwecken.
- Ich wüte, damit kann ich Andere verunsichern. Ich zeige, wie stark und mächtig ich bin. Sie kommen schon gar nicht erst mit ihrem Anliegen, weil sie meine Wut fürchten oder sie lassen von ihrem Vorhaben ab, weil ich wütend werde. Oder ich kann mit ihnen kämpfen und streiten, was mir vielleicht Spass macht.
- Ich werde still und verschliesse mich. Andere kommen nicht mehr an mich heran und fühlen sich vielleicht hilflos, weil sie nicht mehr mit mir in Kontakt treten können. Sie fühlen sich vielleicht schuldig für ihr Verhalten.
- Ich helfe allen ständig und erwarte dann diese Hilfe im Gegenzug zurück. Oder Dankbarkeit oder sonst etwas.
- Ich höre jetzt auf, es gibt so unzählig viele Strategien, wie es Menschen gibt.
Egal welche Strategien wir uns angeeignet haben, sie sind am Schluss doch alle zielorientiert. Ihr Ziel ist es, etwas im Anderen, in unserem Gegenüber auszulösen. Wir versuchen den Anderen dazu zu bringen, sich mit uns, unserem Ego oder unseren unerfüllten Bedürfnissen zu beschäftigen. Wenn wir uns nun also bewusst werden, dass wir Andere NICHT zwingen können, sie NICHT in unseren Dienst stellen können, dann stehen wir plötzlich sehr alleine und einsam da. Genau, einsam. Und genau so ist es nämlich, wir sind in erster Linie alleine. Unsere Gefühle, Gedanken und Handlungen kommen restlos ALLE aus uns selbst heraus. Sie kommen nie von Anderen, diese können lediglich etwas in uns auslösen.
Diese Erkenntnis des Alleinseins, der Einsamkeit hat also eine Hilflosigkeit und Angst in mir ausgelöst. Bis dann die neue Erkenntnis Einzug nehmen konnte. Ich kann zwar niemanden zwingen und ich bin im Grunde genommen Alleine. Das heisst aber auch, dass MICH niemand zwingen kann. Dass ich NIE Opfer von irgend etwas bin. Dass NIEMAND mit mir macht, sofern ich das Spiel nicht mit spiele, die Gedanken denke oder die Gefühle fühle. Ich bin völlig selbst bestimmt, ich bin selbst verantwortlich für die Wahrnehmung und Erfüllung meiner Bedürfnisse und ich habe eine Wahl. Und genau das macht mich zum Schöpfer meines Lebens.
Was das konkret heisst?
- Ich kann meine Kinder zwar bitten, aufhören am Tisch zu streiten, aber ich kann sie nicht zwingen, damit aufzuhören. Ich kann mich aber dafür entscheiden, dass ich meine Mahlzeit an einem anderen Ort einnehme, wenn mir der Streit zu unangenehm erscheint.
- Ich kann meinen Partner nur bitten, Monogamie zu leben, aber ich kann ihn nicht dazu zwingen. Wenn für mich das Fremdgehen aber nicht stimmt, kann ich den Partner verlassen.
- Ich kann meinen Chef nur bitten, respektvoll mit mir umzugehen, aber ich kann ihn nicht zwingen. Wenn mir der Umgang nicht zusagt, darf ich mir einen neuen Job suchen.
- Ich kann mich fragen, wenn ich mich im Hamsterrad fühle, für wen ich das mache. Kann irgend jemand mich zwingen, soviel zu arbeiten? Gäbe es einen anderen Job, in dem ich weniger arbeiten müsste? Vielleicht verdiene ich dort weniger, vielleicht könnte ich aber auch ganz gut mit weniger Geld auskommen?
- Ich kann Freunden, die mir die Energie abziehen ehrlich sagen, dass ich im Moment ohne sie weiter ziehe. Vielleicht treffen sich unsere Wege irgendwann wieder und wir können uns dann wieder bereichernd begegnen.
- Und, und, und.
Ich sage nicht, dass diese Denkweise einfach ist. Nein, das ist sie ganz und gar nicht, denn diese Art zu denken hat mein Leben ganz schön auf den Kopf gestellt und verändert. Auf einmal wurde mir bewusst, wie oft ich in der Opferhaltung bin und denke, dass man es mit mir macht. Mir fehlten die Vorbilder und Bilder zu dieser eigenverantwortlichen Lebenshaltung und diese durfte ich mir erarbeiten und aufbauen. Das erforderte Zeit, Geduld und viel Selbstliebe. Auch jetzt falle ich von Zeit zu Zeit wieder in mein altes, gewohntes Denkschema. Aber das ist OK, denn neue Gewohnheiten dürfen geübt und trainiert werden und sobald es stressig oder turbulent wird, fallen wir gerne in alte bekannte Muster zurück. Das klingt jetzt vielleicht nach viel Arbeit und wieso solltest Du diese Arbeit auf Dich nehmen?
Ja wieso?
Das darfst Du natürlich selbst entscheiden. Du hast die Wahl. Ich selbst bin der Meinung, dass wirkliche Gleichwertigkeit ausschliesslich mit diesem Gedankengut gelebt werden kann. Ich spüre, wie dieses Gedankengut mich stetig freier macht. Freier von Dogmas, freier von fremden und eigenen Erwartungen. Ich lerne dadurch einen respektvolleren Umgang mit meinen Mitmenschen und mit mir selbst, da ich keine Spielchen oder manipulative Strategien verwende, um Andere zu etwas zu bringen. Ich entscheide, was ich möchte, was mir wichtig ist. Und wenn es mir wichtig ist mich anzupassen um in dieser Gemeinschaft zu leben, dann ist das auch eine bewusste Entscheidung. Ich passe mich nicht an im Groll oder fühle mich dabei als Opfer. Nein, ich entscheide mich dann ganz bewusst und voller Achtung, Respekt und Liebe für die Anpassung.
So, und jetzt lasse ich Euch Zeit für Eure eigenen Gedanken. Vielleicht macht der Satz „Ich weiss, dass ich Dich nicht zwingen kann“, auch etwas mit Dir und triggert etwas in Dir an? Und wenn nicht, dann lebst Du diesen Satz vielleicht schon? Wie schön, das freut mich riesig.
Herzliche Grüsse
Céline
Ps: Bei Freunden wissen wir, dass wir sie nicht zwingen können. Sind wir dort nicht viel gleichwertiger und respektvoller unterwegs, als oft mit Familienmitgliedern?
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