Ich will selber!

Spätestens in der Autonomiephase, auch genannt Trotzalter, verkündet uns das Kind oft lautstark „Ich will selber“! Vielleicht kann Dein Kind noch nicht sprechen, vielleicht kann es auch noch nicht in Worte fassen, worum es ihm geht. Aber Du merkst es, weil das Kind genau dann einen Wutanfall bekommt, wenn Du ihm etwas weg genommen hast, mit dem es gerade beschäftigt war oder ein scharfes Messer weg schiebst, nach dem das Kind gerade greifen wollte. Du kannst Dein Kind nun anherrschen, dass es nicht wütend sein soll. Womit Du noch mehr verdeutlichst, wie mächtig Du bist und dass der Erwachsene weiss, was Recht und was Unrecht ist. Oder aber, Du kannst hinsehen. Und zu dieser Kategorie Eltern und „Erzieher“ gehörst Du bestimmt, sonst wärst Du nicht hier und würdest diesen Artikel lesen…

Was kannst Du also tun?

Du kannst wahrnehmen, dass Dein Kind gerade Wut zeigt. Die Wut enthält die Botschaft „Das ist nicht richtig“. Sie dient dazu, für Dinge einzustehen, die uns wichtig sind. Sie liefert uns die nötige Energie, dass wir uns für diese Dinge einsetzen, die uns wichtig sind. Und sie dient auch dazu, persönliche Grenzen zu wahren. Wenn wir uns diese Botschaften auf diese Situation anschauen, dann macht die Wut total Sinn. Das Kind möchte es UNBEDINGT selbst machen. Warum? Es möchte lernen, wie das geht. Das ist ein Grundbedürfnis eines jeden Menschen, jeder möchte lernen und sich entwickeln. Wenn wir dem Kind die Sache weg nehmen oder es für das Kind tun, dann rebelliert es also völlig zurecht. Sein Grundbedürfnis wird nicht erfüllt. Es geht hier nicht einfach um einen Wunsch, es geht um ein Grundbedürfnis. Wir überschreiten mit unserer Handlung seine persönliche Grenze, seine Integrität indem wir das Kind um sein Bedürfnis „zu lernen und sich zu entwickeln“ berauben. Ebenfalls braucht es die Energie der Wut, um uns genau darauf aufmerksam zu machen und um sein Ziel zu erreichen. Das Ziel ist nämlich, es selbst zu tun!

Vor einigen Monaten hatte ich auf YouTube ein Video von Vera F. Birkenbihl gesehen, in dem sie den Zuhörern und uns den Lernberg erklärt. Als ich diese Erklärungen gesehen habe, wurde mir noch klarer, als es ohnehin schon war, warum das „selbst tun“ so wichtig ist, damit wir eben lernen und uns entwickeln können. Schau Dir mal kurz meine Zeichnung dazu an.

Der Lernberg

Du siehst, dass zu unterst beim Lernberg die Erfahrung, das Erleben steht. Vera erklärt, dass diese Erfahrung oft durch einen Unfall verursacht wird. Es passiert mir etwas aus Versehen und damit mache ich eine neue Erfahrung, ein Erlebnis wird kreiert.

Ein Beispiel: Ein Kind lässt einen Schoggihasen auf dem Tisch stehen, wo den ganzen Vormittag die Sonne drauf scheint. Was passiert? Der Schokoladehase schmilzt. Das Kind gewinnt die Erkenntnis, dass Schokolade also an der Sonne schmilzt. Das ist die unterste Stufe des Lernbergs, eine Erkenntnis, ein Erlebnis, eine Erfahrung geschieht.

Ein zweites Beispiel: Das Kind stösst aus Versehen ans Wasserglas. Es kippt um auf dem Tisch und das Wasser leert aus, es fliesst aus dem Glas heraus auf den Tisch. Das Kind macht also die Erfahrung, dass Flüssiges fliesst, wenn ein Glas kippt und offen ist. Das ist die Erfahrung, das Erlebnis, die unterste Stufe des Lernbergs.

Ein drittes Beispiel: Bleiben wir beim Glas. Das Kind stösst aus Versehen ans Wasserglas. Es kippt nicht nur um, es fällt sogar auf den Boden. Es gibt ein lautes Klirr, Bumm, Tätsch, und am Boden liegen tausend Glasscherben und Glassplitter und wenn das Glas voll war, dann noch eine Wasserlache dazu. Das Kind macht also die Erfahrung, dass Glas kaputt geht, wenn es auf den Boden fällt. Es macht die Erfahrung, dass, wenn etwas kaputt geht, Scherben – Grosse und Kleine und Splitter entstehen. Es macht die Erfahrung, dass dabei ein Geräusch entsteht. Wow, was für eine Entdeckung für das Kind, da eröffnen sich dem Kind ja völlig neue Welten.

Die unterste Stufe des Lernbergs ist also erstellt. Es entstand eine Erfahrung, ein Erlebnis, ein Unfall. Sofern dieser für Körper und Seele schmerzfrei war und sich das Kind für dieses Thema interessiert, dann möchte es das noch genauer untersuchen. Es möchte noch viele Erlebnisse und Erfahrungen mehr dazu sammeln. Es möchte schauen, ob das selbe beim 2. Versuch wieder passiert (es überprüft seine Handlung, es testet seine Realität und Wahrnehmung). Es schaut vielleicht, ob es bei jeder Flüssigkeit passiert. Es kommt auf die Idee, dass ja dann die Flüssigkeit auch willentlich in ein anderes Gefäss geschüttet werden kann. Hin und her. Es testet vielleicht, ob das Glas aus jeder Höhe zersplittert. Es möchte gerne die Scherben untersuchen. Wie spannend diese doch sind. Es gibt Kleine und Grosse, es gibt Splitter. Sie sind spitzig oder flach, und, und, und. Macht ein Kind etwas anderes als es ein Wissenschaftler tut? Nein. Genau so funktioniert doch auch die Wissenschaft. Sie macht einen Versuch, macht eine Feststellung, überprüft, versucht es erneut, macht eine Feststellung, überprüft – X-Mal, bis mit Sicherheit gesagt werden kann, dass XY so oder so funktioniert oder eben nicht funktioniert.

Irgendwann kommt dann das Kind mit Fragen zu seiner Erfahrung. Es möchte verstehen. Dann, und zwar erst dann, sollten wir mit dem Kind in den Dialog zu seiner Entdeckung gehen. Wir dürfen ihm erklären, wieso etwas geschieht. Oder was dann damit geschieht. Oder wir spinnen gemeinsam mit dem Kind seine Gedanken weiter oder helfen ihm, wo es an mehr Informationen dazu kommt (mit älteren Kindern). Hier gibt es ja Bücher in Bibliotheken, Fachpersonen zum Fragen, das World Wide Web, die Natur und andere Möglichkeiten. Was für ein Segen, da kann ja fast alles nachgeschaut werden. Erklären wir zu früh, also vor oder während der Erfahrung, überfordern wir das Kind. Es kann mit unseren Erklärungen nichts anfangen, denn die Erfahrung dazu fehlt noch oder muss zuerst verdaut und gefestigt werden. Verhindern wir, dass dem Kind sowas passiert, dann berauben wir es seiner Erfahrung und somit auch der untersten Stufe des Lernbergs. Ein Samen, der irgendwann einmal keimen könnte, wird nicht gesetzt, weil wir die Erfahrung verhindern. Ihr versteht also bestimmt, wie unglaublich wichtig dass es ist, dass jedes Kind, ja jeder Mensch, seine eigenen Erfahrungen machen darf. Wir sollten niemanden seiner Erfahrung berauben. Denn ohne sie, kann kein wirkliches Lernen statt finden.

Wenn wir die Erfahrung nicht zulassen wollen, weil es uns stört

Dann ist das OK und wichtig. Wir können und wollen nicht allen Erfahrungen hier und jetzt Raum und Zeit schenken. Wir können aber dafür sorgen, dass wir das Kind nicht als „unrichtig“ abstempeln, weil es das jetzt ausprobiert, wo für uns der Ort oder der Zeitpunkt nicht passt. Wir können dem Kind mitteilen, dass es uns gerade stört oder für uns gerade nicht stimmig ist. Dass es das gerne später ausprobieren darf oder an einem anderen Ort.

Wenn wir die Erfahrung nicht zulassen wollen, weil es zu gefährlich ist

Das ist wichtig und das ist unsere Verantwortung. Wir wollen ein kleines Kind nicht mit Scherben spielen lassen. Es kann sich zu arg verletzen. Das Kind weiss das noch nicht, aber wir. Deshalb müssen wir auch mal Nein sagen, wenn etwas zu gefährlich ist. Oder wir suchen nach einer Möglichkeit, wie wir das gemeinsam untersuchen können. Z.B. kann ich das Kind als erstes weit von den Scherben weg tragen und ihm Finken oder Schuhe mit einer harten Sohle anziehen. Dann können wir gemeinsam die Scherben aufwischen und ich könnte vielleicht vorsichtig 1-2 grosse Stücke heraus suchen, die wir dann gemeinsam etwas näher anschauen können. Ich könnte dem Kind dann zeigen, wo es scharf ist und dass man sich genau dort schneiden kann. Wo die Scherbe dafür angefasst werden darf. Und wenn gar nichts geht, dann dürfen wir dem Kind einfach seine Gefühle lassen, wenn es wütend oder traurig wird, weil es etwas Gefährliches nicht machen darf. Hier ist die Begleitung von Gefühlen gefragt. Mehr dazu liest Du hier.

Wir können Alternativen anbieten

Wir können IMMER versuchen, Alternativen anzubieten. Dafür müssen wir nur überlegen oder mit dem Kind sprechen, was es gerade so spannend an einer Sache findet (manchmal ist uns das nämlich nicht logisch). Denn das, was es so spannend findet, möchte es genauer untersuchen. Und zwar jetzt! Dieser Drang ist gross, er ist stärker als jedes Verbot. Zurecht, denn es bildet die Basis fürs Lernen. Wir können also überlegen, wo und wie das Kind genau das ausprobieren, üben und testen kann. Kann es mit Wasser anstatt auf dem Tisch in der Badewanne, im Waschbecken oder auf dem Balkon spielen? Kann es in der Erde in einem Topf auf dem Balkon wühlen anstatt mit der Erde der Pflanze im Wohnzimmer?

Wir können eine JA-Umgebung schaffen

Wir können schauen, ob wir etwas Kindgerecht anschaffen können. Gibt es einen kleineren Wasserkrug, der für das Kind handlicher ist damit es sich besser selber einschenken kann? Gibt es ein Rüstmesser, das nicht allzu scharf ist, mit dem das Kind bei uns in der Küche schnippeln kann? Gibt es eine Unterlage für den Tisch, so dass das Kind mit dem Messer volle Pulle drauf hauen kann und es uns den Tisch damit nicht zerkratzt? Kann ich irgendwo verschiedene Deckel anbringen, so dass sich das Kind am Üben der Deckel üben lassen kann so lange es will? Kann ich Knöpfe auf einen Stoff-Fätzen aufnähen, so dass das Kind die Knöpfe auf und zu machen kann?

Überlass es der Natur, stell Dich Deiner Angst

Ganz oft sind wir aber auch einfach zu ängstlich, zu vorsichtig. Wir möchten den Kindern mögliche Schmerzen ersparen. Meine Kinder durften z.B. bereits mit 2 Jahren mit einem scharfen Küchenmesser in der Küche schnippeln. Ich war dabei, ich habe begleitet und klar, hie und da hat sich ein Kind mal leicht geschnitten. Da konnte es eine andere neue Lernerfahrung machen:

Wenn ich den Finger nicht schön weg halte, dann schneidet mich das Messer. Die Haut am Finger platzt auf, es entsteht ein Schnitt. Es kommt Blut. Blut ist rot und flüssig. Der Schnitt brennt. Meine Eltern desinfizieren mit einem Mittel, damit der Schnitt gereinigt wird. Es gibt ein Pflaster. Aha, das Pflaster schaut, dass das Blut nicht überall hin tropft. Die Wunde tut noch 2-3 Tage weh und immer, wenn der Finger ins Wasser kommt, brennt es wieder. Usw.

Es können also auch hiermit viele Erfahrungen gesammelt werden. Wir dürfen uns jeweils fragen: „Ist es lebensbedrohlich?“ „Wie hoch ist das Risiko?“ „Was könnte schlimmstenfalls passieren?“ Und dann dürfen wir einen normalen Menschenverstand walten lassen. Wir brauchen nicht alles verhindern, damit behindern wir das Kind lediglich in seiner Entwicklung. Wir bremsen es, wir schmälern seinen Selbstwert, weil es irgendwann denken kann, dass es eben nicht viel kann. Kann es ja auch nicht, wenn es die Fertigkeiten nicht erlernen darf. Denn nur durch Übung entsteht ein Meister. Wenn etwas wirklich Schlimmes passieren könnte, dann ist es selbstverständlich an uns, einzuschreiten und die Verantwortung für den Schutz des Kindes zu übernehmen. Ich lasse mein kleines Kind auch nicht mit heissem Wasser hantieren, nur, damit es eine Erfahrung machen kann. Eine Erfahrung, die ihm dann Narben fürs Leben bereiten können. Aber wir können es vielleicht gemeinsam tun? Es darf vielleicht mal kurz eine Fingerspitze rein halten, damit es mir glaubt, dass das wirklich sehr heiss ist und wie sich sehr heiss anfühlt (sofern es das unbedingt möchte)?

So vieles könnten wir einfach der Natur überlassen, wenn wir den Mut hätten, nicht einzugreifen. Wenn wir nicht meinten, das Kind belehren zu müssen und ihm etwas beibringen zu müssen. Wenn wir uns statt dessen darum kümmern würden, was mit uns passiert, wenn wir dem Kind nicht helfen, es ihm nicht abnehmen und wir nicht einschreiten. Wäre uns dann langweilig? Fühlten wir uns dann nicht gebraucht oder sogar unnütz? Falls ja, dann ist das vielleicht ein Zeichen, dass ich mich darum kümmern darf, meinem eigenen Leben auch noch andere Bedeutungen zu geben, als ausschliesslich über das Kind und übers Mama sein.

Komme ich immer gleich in riesige Ängste, dass dem Kind etwas zustossen könnte? Dann ist es vielleicht an der Zeit, dass ich mir diese Ängste mal mit einem Coach, Berater oder Psychotherapeut anschaue. Was möchten sie mir sagen? Wo ist etwas in meinem Leben nicht im Einklang, dass ich schnell in solche Ängste komme? Etc.

Fazit

Jeder Mensch lernt neue Dinge durch Erfahrungen, einen Unfall, ein Versehen, übers Ausprobieren! Es ist an uns, diesen Schritt zuzulassen und somit ganz viele Samen für viele Lernerfahrungen zu setzen. Wir sollten uns so oft es geht raus halten. So lernen die Kinder von sich aus, aus Leidenschaft und Motivation. Kritik, Hilfen und Verbesserungen sind hier nicht angebracht, wir sollten einfach beobachten und zulassen. Das geht im gehetzten Alltag nicht immer, dass das Kind alles selber darf. Aber wir können es so oft es geht zulassen. Und wenn dann die Fragen kommen, dann dürfen wir uns einbringen, gemeinsam diskutieren, überlegen, Spass haben. Und wenn Ihr das Bild vom Anfang nochmals anschaut – wenn die Kinder schon früh üben dürfen, dann können sie vielleicht auch schon mit fast 5 Jahren so tolle kleine „Wursträdli“ selber schneiden…

Herzliche Grüsse

Céline

Ps: Das Video von Vera Birkenbihl findest Du hier auf YouTube: https://www.youtube.com/watch?v=bJ0OFOWx4uI (Lernberg ab Min. 10.30 – 27ig). Es ist wirklich sehenswert, zudem ist sie eine super spannende, kluge und unterhaltsame Referentin.