Liebe Erstgeborene

Ich spüre Deinen Schmerz….

Dein Leben war wundervoll, mit den normalen guten und schlechten Momenten oder Tagen. Du hattest Mama und Papa, Omas und Opas und viele weitere tolle Verwandte und Erwachsenen Freunde von Deinen Eltern. Alle waren sie für Dich da. Seit Deiner Geburt haben sie sich um Dich gekümmert, Dir all ihre Liebe und Aufmerksamkeit geschenkt. Du hast tolle Eltern, sie haben Dich mit diesen Dingen reichlich beschenkt, ja gar überschüttet. Sie haben mit Dir gespielt, haben Dich getragen, betüttelt, mit Dir geschmust und gaaanz viel gekuschelt. Ihr habt schon so vieles gemeinsam erlebt. Was für ein wundervolles Leben, was für eine spannende Welt.

Aber seit dieses Geschwister auf der Welt ist,

seit da ist alles anders. Dieses Geschwister wird dauernd getragen. Es wird beschmust, mit ihm wird gekuschelt. Die Besucher wollen alle das süsse herzige Baby mal halten und Du siehst in ihren Gesichtern, wie entzückt sie sind. Ja stimmt schon, sie sind auch mit Dir freundlich. Aber Du bist ja nicht doof, Du spürst genau, dass sie das Baby Geschwisterchen eigentlich viel interessanter finden als Dich. Dieses Ding ist wie ein Magnet für alle Besucher und auch für Deine Eltern. Für Dich ist es ja auch ein Magnet. Auch Du findest dieses Baby Geschwisterchen super herzig und Du möchtest es auch tragen und mit ihm kuscheln. Bei Dir möchte aber immer ein Erwachsener dabei sein. Und so oft sagen sie „pass auf!“; „tu dies nicht!“; „tu das nicht!“; „sei doch vorsichtig!“. Es fühlt sich auf alle Fälle so an, als würden sie das ständig sagen. Und dieses Baby gibt ja so viel zu tun. Du darfst zwar viel helfen, aber eben doch nicht die richtig tollen Sachen. Diese machen alle Mama und Papa selber. Und es fühlt sich so an, als würde all die Liebe, Aufmerksamkeit und all die Zärtlichkeiten zum Baby gehen. Aber „Hallooo – ich bin doch auch noch da!!! Sieht mich denn Keiner?!“ möchtest Du sagen. Du möchtest es in die Welt hinaus schreien. Doch Dir fehlen die Worte dazu. Du bist noch zu klein. Da ist einfach dieses komische Gefühl im Bauch, das Du nicht zuordnen kannst. Deine Welt steht schief, sie steht Kopf. Was soll das Alles? Du verstehst es einfach nicht. Du versuchst auf diese Gefühle aufmerksam zu machen. Du wütest über alle möglichen Kleinigkeiten. Du versuchst Dir Privilegien zu erhaschen, Du gierst nach Geschenken und es kann an Aufmerksamkeit gar nicht Zuviel sein. Denn sie reicht einfach nicht. Da ist zwar Liebe, da ist Aufmerksamkeit und Zeit für Dich. Aber irgendwie erreicht sie Dich nicht. Du bist wie ein Fass ohne Boden, alles was hinein fliesst, das fällt unten wieder heraus. Es ist einfach alles anders seit dieses Geschwister da ist, vieles ist auf einmal so schwer, so falsch. Und manchmal, wenn Du wütest und tobst, dann hörst Du von Deinen Eltern, dass Du das nicht tun sollst. Dass Du Dich zusammenreissen sollst. Dass Du doch die Grosse bist und Du Dich auch so verhalten solltest. Aber hey, eben warst Du doch noch Klein. Und Du möchtest auch gar nicht gross sein. Viel lieber wärst Du dieses Baby. Es scheint einfach, als würde Dir dieses Baby Deine Eltern weg nehmen.

Ja meine liebe Erstgeborene. Ich spüre diesen Schmerz von Dir. Es ist nun Jahre später und Du bist ruhiger geworden. Zum Glück für uns Alle. Der Schmerz ist nicht mehr alltäglich. Und doch gibt es gewisse Momente, in denen sich dieser Schmerz wieder zeigt. Meistens dann, wenn das jüngere Geschwister im Vordergrund steht.

Wenn es im Vordergrund steht,

  • weil es sich eine Medaille geholt hat und auf dem Podest steht und Du den Stolz Deiner Eltern spürst;
  • weil es seinen Geburtstag feiert und sich alles an diesem Tag um das Geschwisterchen dreht;
  • weil es seinen ersten Kindergartentag hat und nun auch im Schulalltag ist
  • weil es seine ersten eigenen Freunde zu Besuch hat und nicht Du „das Sagen“ hast
  • weil, weil, weil

Ja, in solchen Momenten bricht Dein Schmerz manchmal wieder hervor.

Und auch jetzt kannst Du ihn noch immer nicht in Worte fassen. Auch dann wütest Du vielleicht über ganz andere Dinge oder ziehst auf irgendeine Art die negative Aufmerksamkeit auf Dich oder sonst etwas. Doch all das ist ein Ausdruck Deines Schmerzes. Eine Folgeerscheinung Deiner Entthronung. Ich sehe das, ich weiss das. Und doch, ich kann es Dir nicht abnehmen. Ich kann auch nichts anders machen, als ich es damals gemacht hatte. Ich hatte Dir weiterhin all meine Liebe, Wärme, Nähe und Aufmerksamkeit geschenkt. Sie war halt ab diesem Zeitpunkt halbiert, geteilt mit Deinem Geschwisterchen. Das würde ich wieder so tun. Ich hatte Dir sogar täglich 30 Minuten meine alleinige Aufmerksamkeit und Zeit gewidmet. Du hast Privilegien, die nur DU hast, weil Du die Erstgeborene bist. Aber all das sahst und siehst Du nicht. Manchmal. Du bist dann verworren in Deinem eigenen Gedankenkonstrukt, dass wir Eltern Dich weniger lieben. Und das schmerzt Dich. Das tut mir so leid. Ich halte Dich in Deinem Schmerz, ich sehe Dich und ich schenke Dir in diesem Moment des Schmerzes all meine Liebe! Ich singe Dir das Hawaiianische Lied eines Vergebungsrituals:

„I am sorry. Please forgive me. Thank you. I love you. Love, Love, Love and Healing. Love and healing – for all of us. I send love, love, love and healing. Love and healing – all over the world“.
(Version von Christina Wiesner Sonnenbaum)

Mehr kann ich nicht tun. Und ich bitte darum, dass Dein Schmerz mit jedem Mal leichter wird. Dass er irgendwann weiter ziehen mag und Dich nicht ein Leben lang begleiten muss. Nie hätte ich gedacht, dass es für einen Erstgeborenen so prägend und heftig sein kann, dieses freudige Ereignis eines Geschwisters. Doch für Dich ist es das und das ist OK.

Ich bin immer für Dich da! Unsere Herzen sind immer verbunden!

In Liebe an alle Erstgeborenen,

Deine Mama

Ps: Ich weiss, dass Du Dein Geschwisterchen liebst. Über alles! Du würdest es immer beschützen und für es da sein! Darum geht es nicht. Aber das brauche ich Dir ja nicht zu sagen, das weisst Du. Und ich bin so unsagbar stolz auf Dich und dankbar für Deine Liebe zu Deinem Geschwister. Danke!

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