Auszug aus der Symbiose (Trotzalter & mehr)
Sie begegnen mir immer wieder. Und Dir bestimmt auch. Kennst Du das, dass eine Mutter und eine Tochter fast gleich ausschauend irgendwo über die Einkaufsstrasse bummeln? Sie tragen fast die selben Hosen, die selben Schuhe, haben den selben Haarschnitt und den gleichen Schminkstil? Gewollt oder nicht gewollt, in meinem Kopf poppt dann sofort das Wort „Symbiose“ auf. Was macht dieses Bild mit Dir? Denkst Du: „Ach wie schön, so harmonisch. Zwei Personen und sie sind wie Eins. Einklang. Wundervolle Mutter-Tochter Beziehung. Wünschenswert…“? Oder denkst Du: „Oh je, wie schrecklich. Wie peinlich, müssen die denn so Gleich herum laufen? Haben die denn gar keinen eigenen Geschmack?“
Oder noch ein anderes Gedankenspiel: Wer stellt es sich wundervoll, romantisch und wünschenswert vor, mit seinem Partner zu verschmelzen? Ich spreche jetzt nicht vom Körperlichen, sondern vom Seelischen. Sich als Eins zu empfinden, sich als Einheit zu sehen. Findest Du das wundervoll und erstrebenswert oder graust Dich diese Vorstellung eher?
Spannende Fragen oder? Und ja, die Antworten unterscheiden sich sehr, auch wenn Du vielleicht denkst, dass doch bei jedem Menschen die Antwort die selbe ist. Fritz Riemann nennt das in seinem Buch „Grundformen der Angst“ so, dass es Polaritäten gibt. Die eine Polarität ist „Angst vor der Selbstwerdung (depressive Persönlichkeit)“ und der Gegenpol „Angst vor der Hingabe (schizoide Persönlichkeit)“.
Ich möchte jetzt gar nicht gross auf dieses Buch eingehen, denn es ist schon etwas länger her, dass ich es gelesen habe und ich habe nicht mehr alles so präsent. Was ich hier schreibe ist also meine eigene Wahrheit daraus (und behaftet mich bitte nicht auf Vollständigkeit, denn das ist es nicht). Auf alle Fälle beschreibt Fritz Riemann plausibel in diesem sehr lesenswerten Psychologie-Buch, dass jeder Mensch diese zwei Polaritäten in sich trägt. Wir könnten auch sagen die eine Polarität ist die „Angst vor Zuviel Nähe“ und die andere Polarität ist die „Angst vor Zuviel Distanz“. Diese Polaritäten tragen wir alle in uns und wir bewegen uns auf der Linie zwischen diesen beiden Polaritäten. Sind wir relativ nahe an der Mitte und pendeln mal (unterschiedlich je nach Thema) etwas mehr auf die eine, dann auf die andere Seite, dann fällt uns das nicht weiter auf und betrifft auch unsere Umwelt nicht gross. Bewegen wir uns auf der Linie jedoch in einem Extrem, also stark in der Polarität, dann fallen wir damit schon eher mal auf, unsere Beziehungen werden schwieriger und wir ecken hier und dort an. Das Ziel wäre es also, diese beiden Pole möglichst homogen zu haben.
Ich denke, Du gehst mit mir einig, dass sich die Bilder von den Verschmelzungen und einer Einheit eher in einem Extrem dieses Pendels bewegen? Ich nenne sie Symbiosen.
Werfen wir einen Blick auf den Prozess, den wir Eltern und die Kinder gemeinsam durchmachen:
In der Schwangerschaft sind wir quasi mit dem Baby im Bauch verschmolzen. Wir sind Eins, wir sind eine Symbiose. Diese Schwangerschaft ist für die einen Frauen ein Segen, ein Traum, den sie immer wieder erleben möchten. Sie lieben es, so eng verbunden zu sein mit ihrem eigenen Kind. Nun gibt es aber auch viele Frauen, die geniessen die Schwangerschaft nicht so sehr. Sie freuen sich auf das Kind und geniessen dieses Wunder, keine Frage. Aber sie fühlen sich eher fremd bestimmt. Denn, die Nähe erfordert von ihnen Anpassung. Sie haben vielleicht Rückenschmerzen, sind langsamer, sollten mehr ruhen und vieles mehr. Und so eine Symbiose kann eben auch tiefste Ängste in uns wecken. Und die Strategien wie z.B. Widerstand oder Flucht, die bisher in solchen Situationen angewendet wurden, funktionieren hier mit dem Baby im Bauch nicht. Für diese Frauen ist die Schwangerschaft und die erste Baby-Zeit also eine riesige Herausforderung, denn die Angst vor Zuviel Nähe (betreffend Mutter-Kind-Beziehung) ist ein stetiger Begleiter. Und dafür brauchen sich diese Mütter nicht zu schämen. Es gibt einen Grund, dass sie diese Angst in sich tragen. Jeder Elternteil trägt den eigenen Rucksack mit der eigenen Lebensgeschichte. Also seid bitte unbedingt liebevoll mit Euch selbst, Verurteilungen und Vorwürfe helfen Euch nicht weiter, sie schwächen Euch bloss!
Nun löst sich unser Kind im Idealfall langsam aber stetig aus dieser Symbiose. So kann z.B. ein Baby im Spiegel nicht erkennen, dass es selbst ist. Für das Baby ist dort einfach ein anderes Baby. Und dann, kommt der Moment, wo das Kleinkind erkennt, dass das im Spiegel es selbst ist. Es beginnt „Ich“ zu sagen. Und schon beginnt dann auch die Phase der Autonomie, des Trotzes. Warum? Ja weil das Kind erkennt, dass es eben nicht mit uns verschmolzen ist. Sondern, dass es ein eigenständiges Wesen ist, ein eigenes ICH hat und sich das vom DU unterscheidet. Eine grosse Erkenntnis für das Kind. Findest Du nicht auch? Dass diese Erkenntnis die Welt des Kindes mal ganz schön auf den Kopf stellen kann und alles einmal heftig durch gerüttelt wird, das finde ich persönlich sehr verständlich. Und Du? Dieser Prozess wird nun im Aussen spürbar. Erikson beschreibt diesen Prozess auch so, dass das Kind denkt „Ich bin, was ich will!“ Je nach Temperament des Kindes zeigt es diesen Prozess mit mehr oder weniger Vehemenz und Heftigkeit im Aussen. Und je nachdem, wie wir Eltern mit diesem Prozess umgehen können, können wir ihn unterstützen oder auch erschweren. Wir müssen keine Psychologen sein um zu spüren, dass hier drin ganz viel Entwicklungspotential liegt. Dass dieser Schritt auch wichtig ist um die folgende Erfahrung zu machen: „Ich darf ICH sein. Ich darf etwas anderes WOLLEN als Mama oder Papa. Und ich bin trotzdem geliebt, ich gehöre immer noch dazu.“
Bildlich können wir uns das auch so vorstellen…
Und was macht diese Entwicklung mit Dir als Elternteil?
Bis dahin durftest Du Deinem Kind starke Wurzeln geben. Nun darfst Du ihm erste Flügel wachsen lassen. Du erkennst, dass es selbst ist, dass es anders ist als Du. Dass es vielleicht Charaktereigenschaften und Interessen hat, welche Dir nicht entsprechen und die Dir nicht zusagen. Es macht je nach Temperament lauthals auf sich aufmerksam, auf seine Bedürfnisse, auf seine Wünsche, auf sein Wesen. Kannst Du es sehen und annehmen, so wie es jetzt gerade ist? Hältst Du es aus, dass Dein Kind seinen Willen auch mal nicht bekommt? Einfach, weil jedes Leben in der Gemeinschaft auch Rahmenbedingungen hat und ein gewisses Mass an Anpassung von allen Seiten erfordert? Begleitest Du es dann in seinem Gefühlsausbruch (mehr dazu hier)? Oder fühlst Du Dich selbst von Deinem Kind abgelehnt und in Frage gestellt? Wünschst Du Dir die Verschmelzung und Harmonie zurück und versucht das Kind mit aller Kraft dahin zu biegen? Dürfen unterschiedliche Bedürfnisse sein oder müssten eigentlich nur die Deinen gelten, da Du der Chef im Hause bist und sich das Kind nach Dir zu richten hat? Dürfen Deine eigenen Bedürfnisse sein oder stellst Du die Deines Kindes über die Deinigen, aus Angst vor Verletzung an der kindlichen Seele oder aus Angst vor Ablehnung von Deinem Kind?
Es gäbe noch viele mögliche Fragen, ich lasse das aber mal so stehen. Diese Phase ist für viele von uns sehr schwierig. Sowohl für die Kinder, sowie auch für uns Eltern. Denn sie geht an unsere Grundängste, also mit Vollgas an die Substanz. Und genau hier drin liegt aber auch ein unheimliches Potential an Wachstum für uns Eltern. Bist Du bereit, alte Muster und Strategien aufzubrechen? Bei Deinen Ängsten hinzusehen? Sie zu „transformieren“? Neue, authentische Wege zu gehen und persönliche Werte mit Deiner Familie zu leben?
Und in der Adoleszenz, Pubertät…
Da macht die „Eigenwerdung“, das Loslassen aus der Symbiose nochmals einen ganz anderen Schub. Nach Erikson kommt beim Kind in dieser Zeit die Frage „Wer bin ich, was ist mir wichtig und wie sehen mich die Anderen“. Aber darauf gehe ich hier nicht näher ein.
Puh, soviel Theorie und doch, dies sind meine ganz persönlichen Rückschlüsse und Zusammenhänge aus manchen Büchern, die ich gelesen habe und aus der Ausbildung am AAI-IP-Erziehung, die ich genossen habe. „Die Wahrheit liegt immer im Auge des Betrachters“, sagt der Spruch ja nicht umsonst. Und genau darum die Frage an Dich: Wo gehst Du mit mir einig? Wo klingt es plausibel? Wo bist Du anderer Meinung? Wo möchtest Du eine Korrektur anbringen? Fühl Dich frei, schreib einen Kommentar, lass mich, uns an Deinen Gedanken teilhaben.
Und was denkst Du über die beschriebene Einheiten zu Beginn nach dem Lesen des ganzen Textes hier? Ist das harmonische, einheitliche Bild vielleicht trügerisch und bewegt sich sehr stark in der Polarität auf der Linie? Ist diese Symbiose erstrebenswert?
Fazit
Egal wo Du Dich auf der Linie der Polaritäten mit Deinen Kindern bewegst. Es kommt eine Phase, in der Du mit Deinen Grundängsten konfrontiert wirst. Vielleicht ist das in der Schwangerschaft, vielleicht in der Autonomie- oder in der Adoleszenz-Phase. Stellst Du Dich Deinem persönlichen Rucksack in dieser Phase oder stempelst Du einfach das Kind als „schwierig“ ab? Denn hier liegt so viel Wachstums- und Heilungspotential für Dich persönlich drin. Und ich bin überzeugt, dass wir genau mit dieser Arbeit dank unseren Kindern in vieler Hinsicht selbst gesunden. Und unsere Kinder gesunden automatisch mit. Was wir aus dem System auflösen, wird hoffentlich weg sein.
Und ja, diese Arbeit ist Luxus, das können wir nur tun, weil wir nicht ums nackte physische Überleben kämpfen müssen, wie es in vielen anderen Teilen auf dieser Erde geschieht. Und doch, sehe ich uns in diesem Prozess auch als „stille Erschaffer“. Denn vielleicht vermögen unsere Kinder einmal mehr Liebe und Güte in die Welt hinaus zu tragen als wir es können. Vielleicht kommt irgendwann eine Generation die seelisch so gesund ist, dass sie mehr Frieden in die Welt trägt. Idealististisch, Weltfremd du Träumerisch? Ja vielleicht, bestimmt sogar. Aber wer wären wir schon ohne Träume und Idealismus?
Herzliche Grüsse,
Céline
Ps: Meine Blogartikel und Facebook Posts richten sich zurzeit meistens wie folgt aus:
- Wie findest Du als Mutter Deinen authentischen Weg und wie Du dafür sorgst, in Deiner Kraft zu sein.
- Gefühlsarbeit mit Dir und Deinen Kindern.
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