Warum wir NICHT zwingen sollten
Vor kurzem habe ich einen Artikel geschrieben mit dem Titel „Ich kann Dich nicht zwingen“. Darin beschreibe ich, wie uns diese andere Denkweise, frei von zwingen wollen, herausfordern kann. Und ich beschreibe auch, wie das funktionieren kann.
Hier gehe ich nun auf den Punkt ein, was der Gedanke „Ich möchte Dich zwingen“ mit dem Gegenüber macht. Ich behaupte, dass die meisten Menschen sehr oft unbewusst die Haltung haben, jemand anderen zu etwas bringen zu wollen. Und voilà, schon sind wir im „eigentlich möchte ich Dich zwingen“. Wir sind in diesem Moment nicht bei uns selbst, sondern wir sind beim Gegenüber. Wir sind gedanklich ausschliesslich dabei, was das Gegenüber tun oder lassen sollte, damit es uns gut geht, damit wir keine Angst haben müssen. Speziell mit Kindern kommen Erwachsene noch viel schneller in diese Haltung. Vielleicht, weil wir wissen, dass wir die Verantwortung für unsere Kinder tragen und wir unsere Sache gut machen möchten. Vielleicht, weil wir unsere Kinder so sehr lieben und wir so schnell an unsere Ängste und dadurch an unsere persönlichen Grenzen stossen. Vielleicht, weil alleine schon durch die Grösse, das vorhandene Wissen und Können von Erwachsenen gegenüber Kindern ein Macht Gefälle entstehen kann. Und bestimmt gibt es noch viele andere „Vielleicht weil“.
Was passiert nun aber mit dem Kind, wenn wir in der Haltung sind, es wider seinem Willen zu etwas bringen (also zwingen) zu wollen?
- Das Kind fühlt sich als Objekt. Gerald Hüther sagt dem, es ist dann eine Subjekt-Objekt-Beziehung. Ich denke, dass die Wörter Spielball oder Marionette das auch ganz schön beschreiben. Das Kind muss sich dann als unsere Marionette, unser Spielball fühlen.
- Das Kind hat verschiedene Reaktionsmöglichkeiten. Es kann sich selbst aufgeben und verbiegen, um zu gefallen und den Anforderungen von uns Erwachsenen zu entsprechen. Oder es geht in den Widerstand, also in den Kampf und Streit mit uns Erwachsenen. Es kann auch in eine Starre verfallen und sich darin gefangen fühlen, dann wird es erstmals passiv stehen oder sitzen bleiben und gar nichts mehr tun.
- Das Kind fühlt sich von uns weder geschätzt, noch wahr genommen oder in seinem Bedürfnis ernst genommen.
- Es fühlt sich vielleicht durch uns fremd bestimmt.
- Es lernt zu spüren, was die Anderen, also wir, brauchen, aber nicht, was es selbst braucht. Vielleicht fasst es auch den Trugschluss, dass die anderen Bedürfnisse wichtiger sind als die eigenen Bedürfnisse.
- Im Bauch des Kindes entsteht ein Gefühlschaos. Wenn es dieses Chaos zum Ausdruck bringt in Form von Wut, Aggression oder Traurigkeit, dann hört es aber meistens wiederum vom Erwachsenen, dass es dieses Tun bitte unterlassen soll. Somit lernt es jetzt auch noch, den Ausdruck seiner Gefühle zu unterdrücken, damit es keine Ablehnung dafür erfährt.
Wenn wir uns vorstellen, was später mit diesen Anlagen aus den Kindern wird, dann liegt das auf der Hand. Das gibt Erwachsene, die Glaubenssätze in sich verankert haben wie „Ich muss Anderen gefallen, dann werde ich geliebt und akzeptiert“; „Ich muss tun, was Andere von mir möchten, dann gehöre ich dazu“; „Ich muss aggressiv sein und für mein Recht kämpfen, andere unterdrücken, sonst komme ich zu nichts“; „Ich will oben und nicht unten sein, denn die dort Oben sagen, wie das läuft“; „So wie ich bin, bin ich nicht OK“; „Meine Gefühle sind nicht OK“; und vieles mehr, das sind nur ein paar Möglichkeiten. Ich denke aber wir sind uns einig, dass daraus keine gute und sinnvolle Glaubenssätze entstehen können.
Gerade der Satz „Ich will oben und nicht unten sein, denn die dort Oben sagen, wie das läuft“, führt in einen Kreislauf der Wiederholung, wenn wir diesen nicht bewusst unterbrechen. Denn wenn dieses Kind zum Erwachsenen wird und selbst mal Mutter oder Vater oder Führungskraft in einem Betrieb wird, dann wird sie/er genau dieses Oben so ausleben und das Unten unterdrücken und klein halten wollen. So ganz nach dem Motto „Jetzt endlich bin ich an der Macht, ich bin Oben und Du hast zu tun was ich sage“. Ob es sich dort glücklich und zufrieden anfühlt oder ob diese Haltung dann doch eher leer und traurig macht, das ist eine andere Geschichte.
Stellt Euch nur mal vor, wenn Euch jemand zu etwas bringen/zwingen will, mit dem Ihr nicht einverstanden seid. Wie reagiert Ihr dann? Mit Verständnis und Kooperationsbereitschaft? Oder viel eher mit Widerstand, Aggression, Abwehr, Abkehr oder innerlichem Erstarren? Wenn Eure Eltern oder Lehrmeister Euch früher bestraft haben, weil Ihr nicht getan habt, was sie wollten, was hat das in Euch ausgelöst? Wenn Ihr mich fragt, diese Haltung KANN KEINE Kooperation hervorrufen. Denn sie basiert nicht auf Gleichwertigkeit, nicht auf Respekt vor dem Anderen, nicht auf Akzeptanz.
Was können wir tun, wenn wir das Gegenüber wieder seinem Willen zu etwas bringen möchten und es in den Widerstand geht?
- Wir können den Druck erhöhen. Wie? Durch Wiederholen, durch Drohen, durch Sanktionen, durch Strafen. Ich denke wir sind uns einig, dass all diese Methoden auf dem System der Macht, der Einschüchterung, des Klein Machens und der Angst basieren und sie für den Selbstwert eines jeden Menschen nicht gut sein können!
- Wir können einen künstlichen Anreiz von Aussen schaffen. Wie? Durch Belohnungen und Bestechungen. Ich denke wir sind uns einig, dass diese Systeme zwar kurzfristig funktionieren können, sie aber der Manipulation dienen. Und mit der Manipulation sind wir wieder beim Marionettenspiel angelangt. Dieses Marionettenspiel kann für das Verantwortungsgefühl, die Entscheidungsfähigkeit, die innere Motivation und das Selbstwertgefühl eines jeden Menschen nicht gut sein!
- Wir können uns den Widerstand ansehen. Kurz innehalten und uns das Stopp Zeichen vom Gegenüber ansehen. Wieso gerät das Gegenüber in Widerstand? Was möchte mir dieser Widerstand sagen? Nun sind wir in der Beziehung mit dem Vis-à-Vis, im Respekt, in der Gleichwertigkeit.
Wenn wir letzteres tun, dann kommen wir automatisch in die Reflektion mit uns Selbst, unseren Werten und Bedürfnissen. Wir sind dann nicht mehr einfach überzeugt, dass wir hier „der Boss“ sind und dass wir alleine durch diese Position das Recht auf Bestimmung haben. Vielmehr hinterfragen wir dann, ob das wirklich gerechtfertigt ist, was wir hier vom Kind, Mitarbeiter oder Partner verlangen. Ist es unser Recht, zu erwarten, dass das Kind das tut, was wir in diesem Moment von ihm erwarten? Oder hat es das Recht auf Eigenbestimmung und darf es selbst entscheiden, wenn es etwas Anderes möchte? Nun können wir uns entscheiden, dass wir unser Kind nicht zu irgend etwas bringen möchten, was es selbst nicht wünscht. Wir können es NICHT ZWINGEN, das zu tun was wir wollen, ohne den Druck zu erhöhen und die Spiele der Angst, Macht und Manipulation zu benutzen.
Was kann ich also statt dessen tun?
- Ich kann entscheiden, was ICH in diesem Moment mache. Ich kann eine runde an die frische Luft gehen, wenn ich den Streit zu Hause nicht aushalte. (Mehr dazu auch in meinem Artikel „Ich kann Dich nicht zwingen“)
- Ich kann nach Alternativen Ausschau halten und mit dem Kind in den Dialog treten. Das sieht dann z.B. so aus: „Du möchtest gerne laut spielen, das verstehe ich, das ist OK. Ich möchte gerne diesen Brief schreiben und ich muss mich dazu konzentrieren können. Dazu brauche ich Ruhe. Also, Du möchtest laut spielen und ich brauche Ruhe. Passt irgendwie nicht zusammen. Wie wärs, wenn Du in Deinem Zimmer laut spielst und ich schreibe hier den Brief in Ruhe zu Ende? Oder wie wärs, wenn Du hier im Wohnzimmer bleibst und ich ziehe mich ins Büro zurück, bis ich den Brief fertig geschrieben habe? Oder was hast Du für einen Vorschlag, wie wir das lösen können so dass es für uns Beide stimmt?“
- Ich kann Lernschritte zulassen und mich im Vertrauen üben: „Du möchtest nur die dünne Jacke anziehen in den Kindergarten? Schau, ich finde es noch zu kalt für die dünne Jacke, ich glaube, Du wirst frieren und dann sorge ich mich um Dich, dass Du krank wirst. Du darfst das selbst entscheiden“. Wenn das Kind sich dann für die dünne Jacke entscheidet, dann habe ich das zu akzeptieren, es ist seine Entscheidung. Ich kann mich dann im Vertrauen üben, dass es sich selbst gut spürt und wenn dies noch nicht der Fall ist, hat es jetzt die Möglichkeit, sich selbst gut spüren zu lernen. Vielleicht wird es frieren und kalt haben. Dann wird es morgen sicher aus freien Stücken die wärmere Jacke anziehen und es hat ein Schrittchen Selbstspüren gelernt, wie toll.
- Ich kann die Verantwortung übergeben: Ich kann dem Kind die Verantwortung übertragen, dass es rechtzeitig aus dem Haus geht für die Schule. Klar, sage ich ihm, wann es Zeit ist, sich anzuziehen oder aus dem Haus zu gehen (oder lerne ihm die Uhr oder stelle ihm den Wecker etc.). Ich sage das alles Einmal und verlasse mich darauf, dass mein Kind gute Ohren hat. Wenn ich nämlich sage, dass es Glacé oder Schokolade gibt, dann hört es dies auch gleich beim ersten Mal sagen. Und danach verlasse ich mich auf das Kind. Vielleicht kommt es dann mal zu spät zur Schule. Dabei darf es die Erfahrung machen, wie es ist, alleine durch ein leeres Schulhaus zu laufen, an die Türe des Klassenzimmers zu klopfen und zu erleben, dass 20 Schüler es ansehen, wenn es den Kopf zur Türe rein steckt. Denkt Ihr, dass Euer Kind diese Erfahrung toll findet und sie öfters suchen wird? Ganz sicher nicht, sofern es sich nicht bereits in Fehlverhalten mit Euch verstrickt hat. Fair ist es, wenn ich dem Kind schon vorab mitteile, dass ich ihm die Verantwortung fürs pünktliche aus dem Haus gehe übertrage, dass ich ihm zutraue, dass es das selbständig kann.
- Ich kann wiederkehrende Probleme (aufeinander prallende Bedürfnisse) am Familienrat aufgreifen und wir suchen gemeinsam nach passenden Lösungen – gemeinsam; fair; respektvoll und lösungsorientiert.
- Ich kann mit dem Kind die Sprache der Bedürfnisse üben. Indem ich „Ich-Botschaften“ verwende, in denen ich mein Bedürfnis mitteile und bei mir bleibe. Indem ich aktiv zuhöre und herausfinde, was die Bedürfnisse des Kindes sind.
- Ich kann mich entscheiden, dass es hier meine Verantwortung ist, klar die Führung zu übernehmen und mein NEIN stehen zu lassen. Dann wird das Kind seine Gefühle, sein „Kuddel-Muddel im Bauch“ zum Ausdruck bringen. Denn es fühlt sich jetzt frustriert, wütend, traurig, gestresst, genervt oder sonst was. Diese Gefühle sind OK, sie dürfen da sein. Ich darf dem Kind meine Empathie für diese Gefühle entgegen bringen, es in seinen Gefühlen begleiten. Diese Gefühle sind OK, das Kind ist OK, alles darf sein. In der Sache bleibe ich klar und standfest, liebevoll, denn das ist meine Aufgabe als Mutter/Vater.
Ich bin überzeugt, dass all diese Möglichkeiten gleichwertig sind. Dass wir damit fair zu uns selbst und zu unseren Kindern sind. Dass wir in Beziehung und im Dialog bleiben und trotzdem klar sind, wodurch wir auch unsere Erziehungs- und Führungsfunktion wahr nehmen. Und bei all dem, wird der Selbstwert des Kindes, seine eigene Motivation, seine Bedürfnisse und sein Verantwortungsgefühl bestmöglich gestärkt und geschützt. Und genau damit erreichen wir die Ziele, die wir doch alle Eltern mit unseren Kindern verfolgen. Alle Eltern haben nämlich als Ziel, dass ihre Kinder glückliche und zufriedene Erwachsene werden. Aber wenn wir unsere Kinder zu etwas bringen, zwingen, forcieren, dann tun wir viel gegen diese Ziele. Denn sie führen zu Drohungen, Strafen, Manipulation durch Belohnungen etc. und all diese Strategien können für unser Wohlbefinden und Glück nicht gut sein, da sie zu KEINEM guten Selbstwert führen können.
Darum lasst uns achtsam sein, wann wir in das Gefühl verfallen, unsere Kinder zu etwas bringen zu wollen, sie formen, pushen, ziehen, zwingen zu wollen. Je öfters und früher wir merken, dass wir in diesen Wunsch verfallen, umso öfters und schneller können wir für uns einen Stopp setzen. Einen Stopp setzen um uns dann in der gleichwertigen und respektvollen Haltung zu üben. (Und wenn wir in alte Muster fallen, dürfen wir lieb mit uns selbst sein, auch wir brauchen Zeit zum Üben. Jahrzehntelange Muster lassen sich nicht von heute auf morgen auflösen.)
Und genau hierfür helfen uns auch Kurse, Themenabende und Elternkreise, sofern die Elternbildner diese gleichwertige und respektvolle Haltung vertreten. Denn viele von uns haben diese Haltung noch nicht von ihren Eltern mit auf den Weg bekommen. Das heisst, Ansätze davon schon. Es ist nun aber an uns, an unserer Generation, diese Ansätze weiter zu führen und sie in eine neue Dimension zu führen. Wir haben in der westlichen Welt weder mit Krieg, noch mit Hungersnöten zu kämpfen. Wir haben also das Privileg, uns um das seelische Gesunden zu kümmern. Und wer weiss, was es mit der Welt macht, wenn viele seelisch gesunde Kinder zu Erwachsenen heranwachsen dürfen? Ich finde das ein fantastisches Ziel. Machst Du mit?
Herzliche Grüsse
Céline
Ps: Mehr zum individualpsychologischen und gleichwertigen Ansatz erfährst Du auf Facebook fb.me/Elternkind.ch. Like die Seite und hole Dir regelmässig Inspirationen dazu. Oder kennst Du schon die Facebook Gruppe „Mit Kindern wachsen“ (https://www.facebook.com/groups/MitKindernwachsen/) ? Sie bietet Dir die Möglichkeit, Dich mit anderen respektvoll auszutauschen und Dir Inspiration zu holen. Sandra und ich gehen dort ein Stückchen unseres Lebensweges gemeinsam mit anderen Eltern, Coaches und Fachpersonen, die gerne gemeinsam mit Kindern wachsen möchten. Und dann gibt es noch die Facebook-Seite der Familien-Werkstatt (https://www.facebook.com/FamilienwerkstattAAI/), dort sind verschiedene Fachpersonen mit u.A. individualpsychologischem Hintergrund vertreten.
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